Früheinschulung mit 5 1/2 Jahren -
wie gehen wir damit um?

Dr. Anne Steinmüller
Kinderärztin und Schulärztin der Waldorfschule Märkisches Viertel Berlin

 

Als Reaktion auf die Pisa-Studie zeigten sich in Deutschland eine Reihe von Bewegungen, die dazu beitragen sollen, zu einem höheren Bildungsstand unserer Kinder zu führen.
Einige Initiativen davon, zum Beispiel die von staatlicher Seite aus früh einsetzende Förderung der Sprache in Kindergärten (man denke an die Vielzahl von Kindern mit Sprachentwicklungs-Schwierigkeiten), die Verbesserung der Erzieherausbildung und die Bemühung um die Neustrukturierung der Schuleingangsstufe mit Erstellung individueller Lehrpläne sind sicherlich pädagogisch wertvoll und zu unterstützen.
Andere Reformen wie die Vorverlegung des Einschulungsalters scheinen wesentlich beeinflusst zu sein durch rein wirtschaftliche Erwägungen, indem sie darauf hinzielen, Schul- und weiterführende Bildung möglichst schnell zu absolvieren, damit der Volkswirtschaft so wenig Kosten wie möglich entstünden. Ausgehend von der enormen Aufnahmefähigkeit und Lernbereitschaft der Vier- bis Fünfjährigen sei es nahezu eine "Verschwendung von Ressourcen", solche Fähigkeiten nicht auch zu nutzen.
Es gibt keine Hinweise dafür, dass früh eingeschulte Kinder mit hohem schulischen Wissen in den ersten Jahren auch längerfristig einen Lernvorsprung gegenüber später eingeschulten Kindern haben und auch keine Untersuchungen, die ausschließen lassen, dass die deutliche Verkürzung der Kindheit in Verbindung mit zu frühen intellektuellen Anforderungen sich auf sehr jung eingeschulte Kinder gesundheitlich schädigend auswirkt. Dagegen deuten Untersuchungen aus den 90er Jahren darauf hin, dass Kinder, die mit der Schule anfangen, ehe sie entwicklungsmäßig dazu bereit sind, mit größerer Wahrscheinlichkeit im späteren Leben scheitern können, öfter Klassen wiederholen müssen oder auch eher Probleme mit dem Selbstwertgefühl bekommen können (Literatur bei der Verfasserin).

Dies wirft die Frage auf, wann denn die Kinder in ihrer Entwicklung eigentlich bereit für die Schule sind, also wann sie schulreif sind und was man darunter verstehen kann. Betrachtet man die intellektuellen Fähigkeiten der Kinder als einziges Kriterium, wäre es sicherlich möglich, sie auch schon sehr früh einzuschulen.
Es gibt jedoch unbestritten einen Zusammenhang zwischen körperlicher Entwicklung und Schulfähigkeit. Aus Sicht der Waldorfpädagogik ist ein Kind erst schulreif, wenn ihm nach Beendigung einer bedeutsamen körperlichen Entwicklungsphase - ungefähr am Ende des ersten Lebensjahrsiebtes - Kräfte zur Verfügung stehen können, die zur Strukturierung gedanklicher Zusammenhänge, zur Vorstellungsbildung und Abstraktion dienen. Bei diesen Kräften handelt es sich um dieselben Kräfte, die zuvor im Wachstum und der Gestaltung der leiblichen Organisation tätig waren und mit Einsetzen des Zahnwechsels zunehmend für neue Aufgaben genutzt werden. In diesem Sinne müssen sowohl körperliche als auch seelische Kriterien zur Bestimmung der Schulreife betrachtet werden.

Wie auch an anderen Waldorfschulen üblich führen an der Waldorfschule Märkisches Viertel die Aufnahmelehrer und bei einigen Kindern auch die Schulärztin Einschuluntersuchungen durch. Dabei achten wir auf Merkmale, die das Freiwerden leiblicher Gestaltungskräfte signalisieren: Zahnwechsel und Gestaltwandel gehören u.a. dazu, körperliche Orientierung und Orientierung im Raum, Entwicklung der Gleichgewichtskräfte und der Geschicklichkeit, sprachliche und kognitive Zeichen sowie die innere Haltung des Kindes.
Aufgrund menschenkundlicher Betrachtungen halten wir an dem Begriff der Schulreife fest und fühlen uns bestärkt durch jahrzehntelange Erfahrungen in der Begleitung von Schülern durch die Schullaufbahn an Waldorfschulen. Seit Januar 2004 läuft eine Langzeituntersuchung mit Daten von 3600 deutschen Waldorfschülern mit der Fragestellung, inwieweit der bei der Schuleingangsuntersuchung festgestellte individuelle Entwicklungsstand eines Kindes eine Bedeutung für die langfristige Entwicklung seiner Gesundheit und seiner Leistungsfähigkeit hat. Und falls das Erreichen einer bestimmten Entwicklungsreife vor Schulbeginn bedeutsam ist, wird untersucht, wann die Kinder diese erreichen (Forschungsprojekt des Instituts für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie [IPSUM], Stuttgart).
Erste Auswertungen der Daten von bewährten Schulreifekriterien zeigen, dass die volle Ausreifung wichtiger motorischer, sensorischer und kognitiver Fähigkeiten bei den Mädchen nicht vor dem ersten Halbjahr des siebten Lebensjahres erwartet werden kann, bei den Jungen nicht vor dem Ende des siebten Lebensjahres (siehe dazu die ausführliche Beschreibung der Ergebnisse in Erziehungskunst 5/2006, S.531-43).

Die in Berlin festgelegte Einschulungszeit von 5 1/2 Jahren liegt deutlich vor dem beschriebenen Alter der zu erwartenden Schulreife. Damit werden dem Kind intellektuelle Leistungen abverlangt, bevor körperlich entscheidende sensorische und motorische Fähigkeiten ausreifen können. Dies kann sich schwächend auf die Lebensgesundheit auswirken.

Wie gehen wir also in der Praxis mit der Früheinschulung um, wenn die Kinder ab 5 1/2 Jahren schulpflichtig sind?
In Berlin haben sich zwei Modelle durchgesetzt, wie die kleinsten Schulkinder waldorfpädagogisch begleitet werden können. Entweder sie verbleiben als Schulkinder im Kindergarten und werden regelmäßig durch einen Wanderlehrer unterrichtet oder sie können in einer besonderen Schuleingangsklasse an der Waldorfschule betreut werden. Bei uns gibt es diese als Elementarklasse, in die 18 Kinder aufgenommen werden können. Unser Ziel ist es, in dem Schuljahr einen schonenden Übergang zum schulischen Alltag zu schaffen und den Kindern im geschützten Raum genügend Zeit zum Reifwerden zu geben. Dabei ist es uns ein besonderes Anliegen, denjenigen Kindern, deren Entwicklung sich unterschiedlich schnell vollzieht, zu einem harmonischen Ausgleich zu verhelfen. Auf der Internetseite über die Elementarklasse finden Sie dazu eine ausführliche Darstellung.

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