Landbau-Praktikum | ||
Ein kleiner Stein für eine Brücke Neben dir Grenzwort Deutschland Entweder aus: Matthias Kneip, Grundsteine im Gepäck - Begegnungen mit Polen (1)
Es war im fünften, sechsten oder siebten Jahr nach der Wende. Wir hielten die erste Lehrerkonferenz des neuen Schuljahres an einem Samstag in der zweiten Augusthälfte ab. Es gab herzliche Begegnungen zwischen den Kollegen und Fragen nach den Ferien. Wir bekamen eine Aufgabe: Jeder Lehrer sollte auf der Europakarte einen gelben Punkt an den Ort setzen, an welchem man während seiner Urlaubsreisen am weitesten von der Waldorfschule Märkisches Viertel entfernt war. Es ging flott, kleine Kommentare wurden abgegeben und es herrschte eine entspannte Atmosphäre. Das Ergebnis: Ganz viele Punkte erstreckten sich von Portugal über Südfrankreich bis nach Wales. Auf der rechten Seite der Karte - nur zwei Punkte, die Sudeten und den Balaton markierend. Im Westen nichts Neues?
Es gibt viele Brücken, die Deutschland und Polen verbinden. Es geht nicht nur um ein paar Grenzübergänge. Die Verbindungen zwischen den Ländern existieren seit Jahrhunderten. Im Jahr 1234 kamen die Zisterzienser aus Köln nach Obra: ein Abt, zwölf Patres und zwölf Mönche. Von der Landschaft lässt sich ablesen, was sie geleistet haben. Ora et labora zieht sich kontinuierlich bis in das 21. Jahrhundert hinein. Das Grenzgebiet ist geprägt von den Folgen der Kriege und Aufstände, des Versailler Kongresses, Jalta, der Konferenz in Potsdam, Umsiedlung, Aussiedlung, Vertreibung …, von dem Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Amtskollegen (2), vom Kniefall in Warschau und zuletzt noch von einem Brief an die Danziger - diesmal aus Berlin. Persönlichkeiten wie Dr. Robert Koch (3), der hier in Wolsztyn der Landkreisarzt war, Josef M. Hoene-Wronski (4), Prinz Bernhard (5) lebten und arbeiteten hier sowie viele andere. Es gibt auch kleinere Verbindungsfäden: Namen wie Igel, Adler, Deckert, Banach, Schlafke, Obst … sind auf Grabsteinen, aber auch im aktuellen Telefonbuch zu lesen. An der Grenze lebend, ist man ja häufig von der großen Politik betroffen. Es ist Juli 2006 und es ist heiß. Es herrscht Dürre. Seit Pfingsten hat es nicht geregnet - sieben Wochen lang! Ich bin in Obra und vereinbare - unter den 200-jährigen Linden sitzend und den Tee von selbst gepflückter frischer Pfefferminze trinkend - die Details für das Landwirtschaftspraktikum 2006. Die Menschen dort wundern sich, dass Schüler aus Deutschland kommen wollen, um zu arbeiten. Im letzten Jahr sind wir aufmerksam beobachtet worden, zuerst mit Distanz und Neugier, manchmal auch mit Skepsis. Jetzt sind wir wieder ins Gespräch gekommen und plötzlich öffnen sich mehrere Türen. Es werden viele Angebote und Vorschläge gemacht, zum Beispiel der „Schweizerhof“ von Peter Stratenwerth, der seit 15 Jahren in Mazowsze einen biologisch-dynamischen Betrieb bewirtschaftet und sein Brot und seine Brötchen auf den Wochenmärkten in der Hauptstadt verkauft … Das könnten Sie den Schülern auch noch zeigen! Die Vorschläge häufen sich. Wir wollen aber arbeiten: Durch die Hände die Natur erkunden, Zusammenhänge selbst erkennen. Wichtig ist auch der Kontakt zu den in der Landwirtschaft vorhandenen Tieren, den wir den Schülern in Berlin-Reinickendorf nicht bieten können. Es geht um Erfahrungen und Erlebnisse, die in einer Großstadt nicht zum Alltag gehören - auch mal einen Kuhstall ausmisten oder bei der Kartoffelernte helfen. Im Prinzip bedeutet das: Erleben, wie landwirtschaftliche Betriebe funktionieren und wie die Grundlagen dessen, was wir essen, entstehen.
Auf einem Gut mit den drei 200-jährigen Linden entdecke ich über der Eingangstür eine Überschrift. Sie war zugenagelt mit einem Brett. Mühsam lässt sich lesen: Gott, durch deine Güte dieses Haus behüte. Woanders, in einen Balken im Haus, ist ein Datum geschnitzt: 1835. Die alten Bäume haben eine wichtige Funktion, sie leiten die Blitze ab. Über den Meliorationsgräben sehe ich Bäume, die so einiges von der höheren Gewalt abbekommen haben. Meine drei Linden jedoch wachsen weiter, schützen das Holzhaus und spenden angenehmen Schatten. Der Sommer ist noch sehr heiß.
Im September werden wir hier in Obra bei Wolsztyn zwei Wochen verbringen. Die ansässige Bevölkerung ist seit Generationen mit der Landwirtschaft verbunden. Hier ist der Acker immer noch für viele die Lebensgrundlage. Nach der Systemtransformation kamen die „neuen Methoden“. Nicht für alle, denn immer noch sind gute 40 Prozent von allen Berufstätigen direkt von der Landwirtschaft abhängig (in der alten EU nur ca. zwei bis drei Prozent). Nicht alle haben die Mittel, um mit den modernen Betrieben aus Holland, Frankreich und Deutschland Schritt zu halten. Zum Glück, einerseits: Viele Erzeugnisse, zwar ohne Zertifikat, sind mit ökologischen Methoden angebaut. Sieht man das hier als eine Chance? Will man die Landwirtschaft bis zum Gehtnichtmehr wirklich industrialisieren?
Es wird spannend, die Schüler mit diesen Zuständen zu konfrontieren. Durch dieses Praktikum wird schließlich nicht nur die körperliche Arbeit gefördert. Auch die Erweiterung des Horizonts und des Bewusstseins gegenüber Lebensmitteln, dem Leben auf dem Lande und eben auch über Grenzen hinweg. Die Region um Wolsztyn herum deckt fast ein Viertel des Bedarfs, den Polen an Geflügelprodukten benötigt. Hier werden Hühner gehalten, die zum Schlachten vorgesehen sind oder Eier legen sollen. Pilze, vor allem Champignons, werden zum Gemüse-Großmarkt in der Beusselstraße in Berlin exportiert. Die Ware ist sehr empfindlich und schließlich sind es Luftlinie deutlich weniger als 200 km bis nach Berlin. Als im Frühjahr 1945 alliierte Bombenangriffe Berlin trafen, wollte man hier das Donnern gehört und von bestimmten Hügeln den vom Feuer der Stadt geröteten Himmel gesehen haben. Erfreulich, endlich etwas anderes. Das höre ich am Telefon vom deutsch-polnischen Jugendwerk. Viele besuchen das deutsche Konzentrationslager Auschwitz, dann die Salzgrube in Wieliczka und die Disko in Krakau - natürlich zusammen mit polnischen Jugendlichen. Man hört ermutigende Worte. Inzwischen hat das DPJW uns finanzielle Unterstützung telefonisch zugesagt. Ende Juni 2006 saß ich im Kleist-Forum in Frankfurt/Oder. Es sprach Frau Prof. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin der Europa-Universität Viadrina. Sie sprach vor Polen und vor Deutschen. Sie sprach über Polen und über Deutsche. Sie sprach Polnisch und Deutsch.
1 2 3 4 5 |
zum Anfang der Seite |